Ideologie-Flausen

Autor: Peter Andreas Schöbel
Quelle: Sächsischer Freidenker 52/2015

„Die ideologische Arbeit ist … das Herzstück der Parteiarbeit.[1]“ – Welches Mitglied der SED kannte diesen Satz nicht? In anderen Ausdrucksweisen und mit weitaus weniger theoretischen Ansprüchen läuft einem dieser Satz auch heute noch alle Nase lang über den Weg. Da jammern Parteien aller Couleur nach Wahlverlusten, dass es ihnen – mal wieder – nicht gelungen ist, ihre Ideen dem gemeinen Wähler ‚rüber zu bringen. Da hoffen „Visionäre“ wie Blessing[2] und Dunkhase[3] beim Entwurf scheinbar tröstlicher „Zukunftsvorschläge[4]“ den gemeinen Städtebürger für sich zu gewinnen. Da sollen „konkrete Utopien[5]“ verbreitet werden (Seppmann). Usw. usf. … Die Wahlprogramm-Rüberbringer erhoffen sich von ihrer ideologischen Arbeit Wählerstimmen und Mandate. Soviel ist schon klar. Die Linke erhofft sich darüber hinaus, dass sie auf Grund von Mehrheiten die vielen guten Absichten, die sie hat, endlich mal in Gesetzesform gießen kann. Und dann wird alles gleich ganz anders und wunderbar knuffig.

Die „Visionäre“ erhoffen sich sicher, dass das gemeine Bürgerlein im nächsten Spielzeugladen sich ein Waffenarsenal besorgt und dann gewaltfrei, aber mit einem Wutgeheul, das an Sioux-Indianer erinnert, den Reichstag stürmt, die Bande davonjagt und dann die Visionen – strikt nach Bauplan – umsetzt. Und sicher fällt dann für den Visionär der Posten des unfehlbaren Obertheoretikers ab – und vor allem: viel Applaus.

Da hat die SED aber kleinere Brötchen gebacken. Sie wollte, dass sich alle jenes Wissen aneignen, das man braucht, um die Gesellschaft bewusst und aktiv mitzugestalten. Das „Mitgestalten“ meinte: „Machen was gesagt wird“ und dass die SED dabei ebenso einen Unfehlbarkeitsanspruch anmeldete, versteht sich von selbst. Übrigens verneinen einige Zeitgenossen heute die Notwendigkeit einer Partei deshalb, weil es ja keinen unfehlbaren geistigen Führer geben könne. Amüsant!

Es wird also Zeit, mit den bürgerlichen Verdrehungen des Wesens von Ideologie, ihrem Platz und ihrer Rolle aufzuräumen. Und bürgerlich, ja oft sogar klein- und spießbürgerlich ist das schon, was da beginnend mit St. Stalin im europäischen Raum in den kommunistischen Parteien getrieben wurde.

Was also ist Ideologie?

Fragen wir dazu neumodisch bei Wikipedia nach, so erfahren wir: „Ideologie (griechisch ἰδεολογία – Lehre von der Idee bzw. Vorstellung: von griechisch ἰδέα (idea, ‚Erscheinung‘) und λόγος (logos, ‚Lehre‘)) steht im weiteren Sinne bildungssprachlich für Weltanschauung. Im engeren Sinne wird damit zum einen auf Karl Marx zurückgehend das ‚falsche Bewusstsein‘ einer Gesellschaft bezeichnet, zum anderen wird in der amerikanischen Wissenssoziologie jedes System von Normen als Ideologie bezeichnet, das Gruppen zur Rechtfertigung und Bewertung eigener und fremder Handlungen verwenden.[6]“ Was weiter zu Marx dort steht vergessen wir mal lieber schnell. Es ist die bourgeoise-sozialistische Marxinterpretation.

Im Fremdwörterbuch des Dudenverlages finden wir: „Ideo|logie [gr.-fr.: ‚Lehre von den Ideen‘] die,; -, …ein: a) an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. ä. gebundenes System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen; b) weltanschauliche Konzeption, in der Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen; …“[7]

Schlagen wir nun noch altehrwürdig im „Kleinen politischen Wörterbuch“ des Dietz-Verlages aus der DDR-Zeit nach, so steht dort: „Ideologie: System der gesellschaftlichen (ökonomischen, philosophischen, künstlerischen, religiösen usw.) Ideen, die durch die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft, insbesondere die Produktionsverhältnisse, bedingte Klasseninteressen zum Ausdruck bringen und darauf gerichtet sind, das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen zu beeinflussen, und in entsprechenden Verhaltensnormen, Einstellungen und Wertungen ihren Ausdruck finden.“[8]

Und da fällt uns noch der marxsche Satz vom falschen Bewusstsein ein sowie folgende interessante Darstellung von Engels: „Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche resp. scheinbare Triebkräfte. Weil es ein Denkprozeß ist, leitet er seinen Inhalt wie seine Form aus dem reinen Denken ab, entweder seinem eignen oder dem seiner Vorgänger. Er arbeitet mit bloßem Gedankenmaterial, das er unbesehen als durchs Denken erzeugt hinnimmt und sonst nicht weiter auf einen entfernteren, vom Denken unabhängigen Ursprung untersucht, und zwar ist ihm dies selbstverständlich, da ihm alles Handeln, weil durchs Denken vermittelt, auch in letzter Instanz im Denken begründet erscheint.“[9]

Welche Rolle spielt also Ideologie? Wenn wir Marx folgen wollen, so ist sie der verallgemeinernde mehr oder minder systematische Reflex des gesellschaftlichen Bewusstseins auf die Lebensumstände. In Form von Ideen, Ansprüchen, Wünschen, Einstellungen, Wertungen, Vorstellungen etc. verallgemeinert der Mensch, was ihm direkt in der Gesellschaft wiederfährt oder was ihm von anderen mitgeteilt wird. Und er tut das, weil er sein Handeln besser, d. h. nicht nur instinkthaft steuern will. Es hat sich in der Evolution von Vorteil erweisen und es erweist sich tagtäglich von Vorteil: wer die kommenden Dinge besser abschätzen kann, hat es einfacher und ist erfolgreicher. Nun ist natürlich nicht jede Art von Ideen- und Hypothesenbildung und jede Art von Theorie auch Ideologie. Folgt man Engels (und auch indirekt den obigen Quellenangaben) so wird aus Hypothesen und anderen Theorien und Ideen erst dann eine Ideologie, eine „Ideenlehre“, wenn das Bewusstsein des Widerspieglungscharakters der Ideen verloren geht und die Ideen zu etwas sich verselbständigenden werden.

Ein typisches Beispiel dafür sind Argumentationen, dass dies und jenes nicht sein könne, weil es doch diesem oder jenem Gesetz widerspreche, eventuell gar dem Grundgesetz oder – Gott steh uns bei! – sogar der UN-Menschenrechtscharta! Herzlich willkommen im Kreis der Ideologen! Hier wird mit Ideologien ein Wertmaßstab gezogen. Denn Gesetze sind pure Ideologie. Sie reflektieren soziale Verhältnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt in normativer Form mit der Funktion, diese Verhältnisse zu stabilisieren bzw. zu beeinflussen. Und das Bewusstsein für die dahinterstehende Wirklichkeit ist kaum noch vorhanden. Und da sich mit der Zeit die Verhältnisse ändern, werden bestimmte Gesetze auch unterwandert. Abgesehen davon führt die heutige Gesetzgebungswut dazu, dass es von logischen Widersprüchen nur so wimmelt und dass der Interpretationsspielraum explosionsartig wächst. Damit soll nicht gesagt sein, dass Gesetze oder gar das heilige Grundgesetz Nebensächlichkeiten wären. Es gehört zur Gesellschaft, dass soziale Konflikte auch ideologisch ausgekämpft werden. Deswegen muss man sich aber nicht zum Ideologen machen! Man darf schon offenlegen, welche Regelungen welche Kräfteverhältnisse reflektieren und welche ökonomischen Gruppen bedienen. Man sollte schon laut sagen, dass die Hartz-IV-Gesetzgebung weit trefflicher „Gesetzgebung zur Senkung der Lohnkosten“ heißen könnte. Und man darf schon aufdecken, dass es hier um alles Mögliche, bloß nicht um Grundsicherung geht.

Zur Ideologie werden Ideen immer dann wenn sich die naive Annahme: „Wir müssen bloß richtig denken, dann können wir auch richtig handeln“ verselbständigt. Ist dieser Satz eh schon falsch, so wird er unheilbar, wenn begonnen wird, das Denken von den Lebensumständen und den damit verbunden Erfahrungen zu trennen. Genau letzteres hat Engels hat in aller Deutlichkeit kritisiert.

Ideen und Ideologien sind Reaktionen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Entwicklung

Grundansatz des Materialismus ist das Primat des Materiellen gegenüber dem Ideellen. Das macht sicher das Ideelle nicht bedeutungslos, grenzt aber die Wirkung stark ein. Nach materialistischer Auffassung steuern zwar die Bewusstseinsinhalte das Individuum wesentlich, aber nicht allein. Und sie sind durch und durch Ergebnis der praktischen Beziehung des Individuums zu seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Das ist auch das Grundthema in Rubinsteins Buch „Sein und Bewusstsein“, in dem er eine materialistische Grundsteinlegung der Psychologie versucht, die auf das durchgängig reflektorische Wesen der Psyche verweist.

Selbst unsere „Voraussichten“, unsere Zukunftsvorstellungen, selbst die kleinsten Erwartungen sind Ergebnisse der Erfahrung. Die Zukunft, egal ob die in 1000 Jahren oder die in einer Millisekunde, existiert noch nicht. Sie kann daher auch geistig nicht erfasst, reflektiert werden. Wer immer der Ansicht ist, dass man die Zukunft vorhersehen kann, hat dem Materialismus den Rücken gekehrt. „Vorhersehen“ ist jetzt natürlich im direkten und nicht im landläufigen Sinne gemeint. Sicher weiß jeder, der einen Wasserhahn öffnet, dass gleich Wasser herauskommt. Aber das ist keine Vorhersehung, sondern Ergebnis tausendfacher Erfahrung. Warum sollte es denn beim tausendundersten Mal anders sein? Nun auch das hat man ja schon erlebt: Da will man Wasser haben, man öffnet den Hahn und es kommt … nichts. Da hat wohl so ein Hirni den Haupthahn abgedreht und nicht Bescheid gesagt! Das wäre jetzt die Vermutung für die weniger häufigen Ausnahmefälle.

An diesem kleinen Beispiel soll verdeutlicht werden: Alle unsere Erwartungen und Zukunftsvorstellungen sind im Grunde mehr oder minder begründete Vermutungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie stimmen, steigt mit dem Allgemeinheitsgrad und der Kürze des zu überschauenden Zeitraumes der Vermutung sowie mit der Erfahrung und dem Wissen desjenigen, der die Vermutung anstellt. Eine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit kann aber nie erreicht werden. Es gibt keine Regel ohne Ausnahme. Es gibt keine Notwendigkeit ohne Zufall. Die Regel besteht ja gerade darin, dass viele gleichartige Fälle eintreten. Nicht die Regel begründet die Gleichartigkeit der Fälle, sondern sie ist deren Folge. Und der Unterschied zwischen Regel und Ausnahme ist einzig und allein die Anzahl der zu ihnen gehörenden Fälle: Regelhaft nennt man jene Fälle, die eine signifikante Mehrheit bilden.

Natürlich ist nicht jeder Versuch der geistigen Vorwegnahme, der Antizipation, gleich Ideologie. Das Vergessen der Tatsache, dass jede Antizipation aber im Grunde auf einer höchst komplizierten Apperzeption (Wahrnehmung auf Erfahrungsbasis) beruht, ist schon ein sehr guter Schritt in diese Richtung. Vollkommen angekommen bei purer Ideologie als falschem Bewusstsein im marxschen und engelschen Sinne ist man, wenn man ganze Zukunftsbilder entwirft und nicht bloß die sich aus dem Hier und Jetzt ergebende Notwendigkeiten aufmacht. Herzlich Willkommen im Kreise des Bürgertums, Herr Blessing! Na merken wir nun, dass wir uns ins falsche Lager verlaufen haben, Kollege Dunkhase?

Wenn Ideologien der Reflex auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse sind, bei denen das Bewusstsein des Widerspiegelungscharakters verloren gegangen ist, so verraten die Inhalte und die scheinbare Kraft von Ideologien zum einen etwas über die gesellschaftliche Situation als auch etwas über den Platz ihres Trägers darin. Man schaue sich daraufhin das Parteiprogramm der Linkspartei an: Die Probleme der Arbeitenden kommen da weit hinten. Ganz vorn rangiert der Feminismus bis dahin, dass die naturwüchsige Arbeitsteilung schon fast zum Erbsündenfall erklärt wird. Die Probleme der Arbeitenden waren das nie. Sowohl bei den Leibeigenen, als auch bei den einfachsten Arbeiterfamilien hungerte und aß man gemeinsam. Und zu vererben war ehe nichts Nennenswertes. Was störte, war, dass die Frau bei gleicher Arbeit weniger Geld bekam. Und das war eine Belastung für die ganze Familie. Zuhause bei Küche, Kind und Kirche blieben nur die Frauen besser gestellter Familien, also die Frauen in den Familien des Bürgertums und der „Stehkragenproletarier“. Nur in den bessergestellten Familien war die Beherrschung der Frau eine Vermögensfrage. All das löste man einfach mittels Patriarchat. Um die anwachsende Gleichberechtigung zu umschiffen, erfand man dann den Ehevertrag. In Arbeiterfamilien ist der bis heute eher selten. In dem sich aber die Linke mehr dem Binnen-I und anderen abstrusen Schreib- und Ausdrucksweisen widmet, statt in den Vordergrund die einfache und alte Forderung: „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ zu stellen, statt einer Frauenquote eine Frauenförderung zu fordern, statt eine Umverteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau eine Entlastung nicht wohlhabender Familien zu fordern, macht sie ihre Bürgerlichkeit offensichtlich. Die Bilder, die die Linke in ihrem Programm bemüht, sind die Bilder der bürgerlichen, nicht die der Arbeiterfamilie.

Auch die Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens zeigen sich als Kleinbürger: Sie möchten auch gern mal ohne zu arbeiten leben, wie ihre großen Vorbilder, die Großkapitalisten. Zu dem kann man in ihren theoretischen Pamphleten sehen, wie weit sie vom Leben weg sind: da wird vom alsbaldigen Aussterben der Arbeit und noch mehr an Unfug gefaselt[10]. Bei vielen Vertretern dieser Ideologen-Gattung beschleicht mich auch der heimliche Verdacht, dass sie, selbst wenn es gutbezahlte Jobs vom Himmeln regnen würden, keinen davon abbekommen würden. Eine Katja Kipping oder einen Ralph Boes kann ich mir jedenfalls nicht in einem Produktions- oder Dienstleistungsbetrieb vorstellen.

Ideologien besitzen keine selbständige, unabhängige Geschichte und Macht

Den Ideologien wird fast immer ein selbständiges von der Gesellschaft unabhängiges Leben unterstellt. Sie reflektieren aber immer, auch in ihrer Entwicklung, die gesellschaftlichen Prozesse. Auch bei der „marxistisch-leninistischen Ideologie“ ist das so.

Die marxistisch-leninistische Ideologie erscheint als Interpretation der Theorien und Hypothesen von Marx, Engels, Lenin und anderen an Marx anknüpfenden Praktiker und Theoretiker durch die führenden Funktionäre der kommunistischen und Arbeiterparteien und der mit diesen verbundenen Sozialwissenschaftler. Als Interpretation scheint sie durch diese eine Anpassung im Laufe der Zeit zu erfahren, die von den Personen selbst als „Weiterführung“ wahrgenommen und verstanden wird.

Überhaupt sehen viele Angehöriger kommunistischer, sozialistischer und originär-sozialdemokratischer Parteien ihre Stärke in dieser Ideologie.

Tatsächlich verhält es sich wie bei jeder Ideologie genau umgekehrt: Sie ist nicht Ursache der Handelns und der Strategie der betroffenen sozialer Subjekte. Vielmehr ist sie Reaktion auf die bestehenden sozialen Widersprüche. Insofern vermittelt die marxistisch-leninistische Ideologie ein den neuen Verhältnissen angemessenes Verhalten. Diese Verhältnisse waren die im 19. Jahrhundert sich entwickelnden neuen Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital, die im Verhältnis der beiden sozialen Hauptklassen, Proletariat und Bourgeoisie, zum Ausdruck kamen und durch die industrielle Arbeitsteilung, der weltweiten Arbeitsteilung bei lokaler Produktion, bedingt war und dem Stand der industriellen Produktionsmittel entsprach.

Diese neuen ökonomischen Verhältnisse führten zur Herausbildung neuer politischer Formationen, wobei die der bürgerlichen Gesellschaft typische Gestalt die der politischen Partei war (und auch noch ist).

Die kommunistischen und sozialistischen Parteien reflektierten dies nun mit der Aufnahme der aus gleichen Gründen entstandenen Theorien und Hypothesen von Marx und dessen Mitstreiter. Dabei erfolgte diese Aufnahme entsprechende der konkreten sozialen Lage und der geringen theoretischen Voraussetzungen in Form einer Ideologie und nicht in Form eines theoretischen Systems. Die Handelnden waren schließlich Arbeiter und keine Theoretiker. Schon Lenin war klar, dass diese darum nicht selbst zu einem sozialistische Bewusstsein kommen konnten, sondern dass dies in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden muss. Klar dürfte auch sein, dass es dort nie vollständig ankommen wird, sondern bestenfalls in den für die augenblickliche Situation relevanten Teilen. Folglich wurde diese Ideologie stets den wechselnden sozialen Verhältnissen angepasst, wobei ungeachtet aller Brüche Stringenz behauptet wurde und gelegentlich fast ein Katechismus zustande kam. Besonders die russische sozialistische Oktoberrevolution und die sie begleitenden Hoffnungen hatte eine massenhafte Übernahme der von Lenin aufgestellten Überlegungen, Theorien und Hypothesen zur Folge. Auch hier erfolgte die Anpassung in ideologischer Form, obwohl dies der leninschen Formulierung gegenüber das gerade Gegenteil war. Die immer losere Verbindung zu den theoretischen Ausgangspunkten in den Theorien und Hypothesen Marx‘ und das immer stärkere Abgleiten in eine doktrinäre Ideenlehre hatte ihren Ausgangspunkt in der verstärkten Herausbildung einer kleinbürgerlichen Schicht und insbesondere der Entwicklung von Arbeiterfunktionären zu Kleinbürgern. Nun ist die Position eines Funktionärs, auch die eines Arbeiterfunktionärs, immer eine kleinbürgerliche Lebensposition. Das ist nicht schlimm, solange die Verbindung zur Arbeiterklasse sowie zum fortschrittlichen geistigen Erbe erhalten bleibt und man nicht in die Position des Sesselpupsers abrutscht. Wenn sich aber die Funktionärsschicht beginnt, von der Arbeiterklasse abzusondern, wenn sie zu vergessen beginnt, dass ihre Welt, ihr Leben und somit auch ihre Vorstellungen nicht die der Arbeiter sind, so ist der Untergang gewiss. Schönen Gruß an das ehemalige Wandlitz! Eines der typischsten Beispiele ist hier der Aufstieg Stalins und dessen Anerkennung als Nachfolger Lenins. Er wurde das, obwohl er alles andere als ein großer Theoretiker und genialer Praktiker war und er sich erhaben gegenüber der Arbeiterklasse fühlte und er eigentlich alle wesentlichen leninschen Theorien und strategischen Ideen ohne Untersuchung der Praxis verwarf und durch das genaue Gegenteil ersetzte:

  • Die Abkehr vom leninschen Verhältnis zu Krieg und Gewalt als Nothilfe und die auf Frieden zielende Grundorientierung, die im Dekret über den Frieden zum Ausdruck kam, durch Invasionen in Finnland, Litauen, Estland und Lettland sowie die Aufteilung Polens mit Hitler, mit der Folge der internationalen Diskreditierung der Sowjetunion.
  • Die Abkehr von der ökonomisch fundierten Entwicklung der Landwirtschaft über Naturalsteuer und angepasster Kollektivierung bei hoher Freiwilligkeit und ökonomischer Interessiertheit und die Hinwendung zu Zwangskollektivierung, erneuten Zwangsabgaben und Gewalt, mit der Folge von Hungersnöten und der Abwendung weiterer Teile der Bauernschaft, also der größten Gesellschaftsschicht Sowjetrusslands.
  • Die Abkehr von der „Neuen Ökonomischen Politik“ Lenins, die eine teilweise Rückkehr zu kapitalistischen Methoden bedeute und das Ziel hatte, eine der privatkapitalistischen Welt überlegene Wirtschaft durch ökonomische Interessiertheit zu erreichen und die Ersetzung dieser ökonomischen Interessiertheit durch „Überzeugung“ und Zwang (Sozialistische Industrialisierung) mit der Folge der Verlangsamung der Entwicklung von Arbeitsproduktivität und Produktivkraftentwicklung und des Vordringens kleinbürgerlicher Funktionäre an den Platz entwickelter Proletarier.
  • Die Abkehr von einer nach praktischen Lösungen suchenden praxisorientierten Partei und die Entwicklung zu einer doktrinär-ideologischen Funktionärspartei mit der Folge der Entwicklung von Karrierismus und damit konterrevolutionärer Kräfte in den eigenen Reihen.

Letzteres fand seinen Höhepunkt in den „Wende“ am Ende des 20. Jahrhunderts, die im Grunde das Umschlagen der schleichenden Kleinbürgerlichkeit im Innern der Parteien zum offenen Orientierung auf die bürgerlich-privatkapitalistische Gesellschaftsverfassung und damit zur Konterrevolution war.

Diese Verbürgerlichung der Arbeiterparteien und -organisationen stellt selbstredend nur einen Teil der sich ändernden Verhältnisse dar. Genauso ist hier die immer größer werdende Kluft zwischen ökonomisch-technischer und sozialer Entwicklung in Europa zu nennen und die immer geringere Rolle, die bürgerliche Parteien tatsächlich im politischen Leben spielen, d. h. deren Übergang zu bloßen Anhängseln des Großkapitals, besonders der Banken, die sich auch in den kleinbürgerlich-sozial orientierten Kräften, wie den Linken, Gründen, Piraten etc. als „Realpolitik“ darstellt.

Mithin ist die Abkehr vom Marxismus-Leninismus, sowie dessen immer stärkere Entwicklung zu einer reinen Ideologie nicht Ursache der Schwäche der kommunistischen, sozialistischen und anderen sozialen Kräfte, sondern vielmehr der Reflex dieser Schwäche. Die genannten Kräfte schöpfen in ihren revolutionären Phasen nicht Ihre Kraft aus dem Marxismus-Leninismus, sondern umgekehrt schöpfte der Marxismus-Leninismus seine ideelle Kraft und seine Ausstrahlung aus der praktisch-politischen Kraft seiner Träger – und beflügelte und orientierte sie als Ergebnis dieser Wechselwirkung.

Eine Wiederbelebung der Theorien und Hypothesen von Marx und Nachfolgern und der wissenschaftlichen materialistisch-dialektischen Linie der Sozialtheorien als erneuerte geistige Grundlage kann insofern nur der Reflex dafür sein, und sie hat zur Voraussetzung, dass sich eine einflussreiche und gebildete eng mit den Arbeitenden verbundene und daher vor allem aktive Gruppierung als eigenständige politisch-organisierte Kraft, abseits der bürgerlichen Parteiendünkel herausbildet.

Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist aber in Europa und insbesondere in Deutschland gering. Sie hat aber bereits stattgefunden: Unter anderem in China. Die dortige KP definiert ihre Position nicht mehr ideologisch, sondern praktisch, ist aber ganz klar eine Partei der Arbeiter. Das ist ersichtlich in der These von den drei Vertretungen (Produktivkräfte, Kultur und Werktätige). Sie benennt zwar als geistige Grundlagen die marxistisch-leninistische Ideologie, die Ideen Mao Tse-tungs und die Theorien Deng Xiao-Pings, macht daraus aber kein Dogma. Insofern wird hier auch die wichtige, orientierende, die realen Verhältnisse in ideologischer Form reflektierende Rolle des Marxismus-Leninismus während der Blüte der europäischen Gesellschaften gewürdigt und über den Niedergang dieser Gesellschaften hinaus in seinem positiven theoretischen Gehalt bewahrt. Die Position zur Theorie und die Abkehr von der ideologisierten Form kommen in den zwei Grundsätzen zum Ausdruck:

  • „Die Wahrheit ist in den Tatsachen zu suchen“. Dies räumt dem Praxiskriterium den Vorrang vor jedem ideologischen Fabulieren ein.
  • „Der Weg zum Sozialismus ist zu erkunden“. Dies räumt den Theorien und auch Ideologien lediglich den Platz ideeller Hilfsmittel ein und nimmt ihnen den Platz letzter Wahrheiten. Das bedeutet damit nicht die Rückkehr zum originären Marxismus-Leninismus, sondern die Wiederaufnahme und Fortführung der marxschen theoretischen Richtung als geistiges Hilfsmittel und wissenschaftliche Reflektion an Stelle ideologischer Reflexion.

Wir müssen nur den Menschen das richtige Bewusstsein geben, dann wird alles gut?

Wie schon dargestellt, ist es ein naiver Glaube, man müsse nur richtig denken, um erfolgreich handeln zu können. Es ist eben nicht nur das eigene Denken, dass das Handeln steuert. Es sind da Emotionen genauso im Spiele, wie Kräfte der Natur und Gesellschaft. Und das betrifft auch das Handeln sozialer Gruppen.

Nun kann man ja einwenden: „Dann muss man eben genauer denken!“. Bloß: die Zahl der Faktoren ist unendlich. Einen Abschluss des Denkens – die absolute Wahrheit – kann es da nicht geben. Natürlich ist genaues Denken wichtig. Aber schon der Versuch, möglichst alles vorherzusehen und sich nicht nur auf das Wesentliche zu konzentrieren, stellt den allerbesten Irrweg dar.

Insofern hat schon der Glaube – oder besser Aberglaube – eine Partei oder sonst irgendeine Organisation könne im Besitz aller wichtigen Erkenntnisse und fehlerfrei sein, nichts mit Marx zu tun. Der wird zwar mit dem Kommunistischen Manifest oft in dieser Richtung zitiert: „Sie (die Kommunisten – d. Autor) haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus[11]“. Den vorhergehenden Satz vergisst man aber gern: „Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder[12]“. Und das ist der Kern. Und wenn das gegeben ist, macht Theorie, die nicht nur akademisch oder gar nur Klugscheißerei sein will, Sinn. Marx hat schließlich und sicher wohlweißlich das „Kommunistische Manifest“ mit dem Satz abgeschlossen: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Nicht „Proletarier aller Länder, agitiert Euch!“.

Einfach und wieder mit Marx gesagt: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme[13]“. Aus der praktischen Tätigkeit heraus gewinnt man Erfahrung und Erkenntnisse, kann man bestehende Kenntnisse und bestehendes Wissen verifizieren oder überarbeiten und dann besser als vorher praktisch arbeiten. Wo das Wechselspiel von Theorie und Praxis und die Verbindung zum praktischen Leben verloren gehen, wo die Tore von Wandlitz ins Schloss fallen, wo der Parlamentssessel wichtiger ist als der Besuch bei Gewerkschaften, Betriebsräten und Arbeitern (von mir aus auch ArbeiterInnen), da beginnt die ideologische Tollerei.

Sinn und Unsinn weltanschaulicher Arbeit

Was für Parteien gilt, gilt auch für andere Organisationen, auch für die Freidenker. Selbst für einen Kultur- und Weltanschauungsverein gilt: „Ran ans Leben und an die Probleme der arbeitenden Menschen!“ Nicht die Kleinbürger sind unser Hauptklientel. Willkommen aber sind alle, die den Blick und die Wertschätzung für jene nicht verloren haben, auf deren Händen und Hirnen diese Welt ruht. Diesen Freunden ist zu helfen, auch die Probleme des „einfachen Mannes“ zu verstehen. Aufklärung ist insofern sowohl Vermittlung von Kenntnissen des Materialismus als auch materialistische Betrachtung der Gegenwart und ihrer Probleme.

Insofern ist die „Richtigstellung der Begriffe“ nichts anderes, als die Aufdeckung der Dinge, die sie widerspiegeln und die Offenlegung der sozialen Gründe für verschiedene Inhalte gleicher Worte. So ist zum Beispiel der Begriff „Menschenrechte“ nicht ohne Kenntnis der politischen Kämpfe zu verstehen. Und die verschiedene Auslegung und inhaltliche Betonung derselben wieder legt die Position des Interpreten offen. Das ist ein Angebot, das sich an intellektuell Gebildete richtet.

Das sollte aber nicht unsere einzige Zielgruppe sein. Wen wir leider häufig regelmäßig und sträflich aus den Augen verlieren, das sind die heutigen und künftigen Arbeiter selbst: die Lehrlinge und Studenten, die Gewerkschafter und auch die Arbeitslosenorganisationen. An die müssten sich zuerst unsere Aufklärung, aber auch unsere Kulturangebote richten. Sonst brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir immer weniger werden. Denn die Zahl der Kleinbürger, die mit dem Sozialismus und Kommunismus, wie auch mit Materialismus auch nur entfernt etwas am Hut hat, nimmt notwendig ab. Die wirklich Arbeitenden brauchen aber genau das, auch wenn die Begriffe bei ihnen eventuell verpönt sind. Die Arbeitenden stehen nun mal mit beiden Beinen mitten im Leben. Geben wir ihnen also nicht einfach theoretische Bildung, sondern helfen wir ihnen ihre tagtäglichen Probleme zu sezieren. Suchen wir nicht nur Mitstreiter, die unsere Ideen weitertragen, sondern schauen wir, wie wir mit unserem Wissen denen weiterhelfen können, denen die Zukunft gehört.

Oh, das wird und bleibt schwer!

[1] Bericht des ZK der SED an den IX. Parteitag …, Dietz-Verlag 1976, S. 125

[2] Siehe „Klaus Blessing: Die sozialistische Zukunft, edition Berolina, 1. Auflage, 2014“ und http://www.dresden.freidenker.org/cms/?p=303

[3] Siehe „Freidenker“ Juni-Heft 2015, S. 32 ff. und http://www.dresden.freidenker.org/cms/?p=303

[4] http://www.dresden.freidenker.org/cms/?p=303

[5] https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/2013/04-13/012.php

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Ideologie

[7] Das Fremdwörterbuch, Duden-Verlag 1990, S. 331

[8] Kleines politische Wörterbuch, Dietz-Verlag 1978, S. 358

[9] MEW Dietz-Verlag 1968, Bd 39, S. 97

[10] Für alle, die zwei Köpfe zum Schütteln besitzen, empfehle ich hier nachzulesen: https://www.grundeinkommen.de/die-idee/fragen-und-antworten

[11] MEW Dietz-Verlag 1977, Bd. 4, S. 474

[12] Ebd.

[13] MEW Dietz-Verlag 1987 Bd. 19, S. 13