Ich bin nicht Charlie

Autor: Peter Andreas Schöbel
Quelle: Sächsicher Freidenker 49/2015

Inzwischen gehört es zum westlichen Usus, sich zuerst präventiv zu entschuldigen, wenn man etwas sagt, was nicht in den Mainstream passt. Andernfalls muss man befürchten, mit Unterstellungen und Anschuldigungen überhäuft zu werden.

Also präventiv: Ich heiße Mord natürlich nicht gut, schon gar nicht, um einer Religion oder anderen Weltanschauung zur Ehre zu verhelfen, sei das nun Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus. Oder gar Demokratie.

Und schon wieder muss ich mich entschuldigen (oder besser gesagt gehässigen Unterstellungen vorbeugen). Natürlich ist Demokratie nicht per se eine Religion. Zuerst war Demokratie eine Staatsform. Daraus machte der Westen einen „Wert“ und später einen „Wert an sich“, also eine Ideologie. Und jeder ward Feind, der diesen Wert nicht als „absolutes Absolutum“ ansah. Man unterschlug aber einerseits, dass so vieles im Leben notwendigerweise nicht demokratisch verfasst ist: Wer würde sich schon freuen, wenn die zum Brand herbeigerufene Feuerwehr ersten Mal die Aufgabenverteilung demokratisch berät? Zum anderen unterschlug man, dass man Demokratie als Staatsform längst „entkernt“ hatte. Während man Demokratie zum ideologischen Oberwert machte, höhlte man die eigentliche Staatsverfaßtheit fein säuberlich aus. In der BRD geschah das frühzeitig, mit dem Grundgesetz. Dort heißt es in Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 zu den Abgeordneten: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Ulkig, nicht? Würden Sie sich einen Vertreter nehmen, ihn bezahlen und ihm dann noch garantieren, dass er ihnen bei voller Bezahlung untreu werden darf? Wohl kaum. In dem man die Verantwortlichkeit des Abgeordneten gegenüber denjenigen unterband, die ihn nominiert und die ihn gewählt hatten, setzte man Fraktionen über Parteien und Abgeordnete über den „Souverän“. So kurz ist der Weg von einem relativ nützlichen Organisationsprinzip zu einer Religion. Nach dem die völlige Freiheit der Abgeordneten in der westlichen Welt eines der Grunddogmen der sogenannten westlichen Demokratie geworden ist, sind Kirchgang und Wahlgang gleich wertvoll und nichts anderes als Gebetsveranstaltungen. Man kann auf positive Folgen nur hoffen. Einfluss darauf hat man kaum. Und so wurde aus der Wahlurne der Altar einer neuen Religion. Und diese neue Religion hat ihren festen Platz in der ideologischen Begründung von Kriegen gefunden.

Nun wollte ich eigentlich über Charlie, die Empörung nach dem Mord an den Pariser Redakteuren und über Heuchelei schreiben. Was hat das mit dem Vorherigen zu tun? Sehr viel! Lassen wir einmal alle Indizien und Spekulationen beiseite, die darauf hindeuten, dass es sich bei der Pariser Redaktion um eine Außenstelle des Senders Gleiwitz oder um eine Zweigstelle des New Yorker World Traid Centers gehandelt haben könnte und glauben mal ganz ausnahmsweise der Presse, dass sich das so abgespielt hat, wie es von ihr dargestellt wurde. So haben in Paris Menschen in Namen ihrer Religion das getan, was die westliche Welt im Namen ihrer Demokratie-Religion in Afghanistan und Irak, in Libyen und in Syrien getan hat und immer noch tut. Ja, auch vor dem Beschuss von Redaktionen in Belgrad und in Bagdad ist der Westen nicht zurückgeschreckt. Und 150 unschuldiger Menschen in einer einzigen Nacht umzubringen, wäre in einer wirklichen Demokratie selbst bei Irrtum zumindest das Ende der militärischen Laufbahn gewesen. In Deutschland ist das die Empfehlung, zum Brigadegeneral ernannt zu werden. Immer natürlich im Namen der Demokratie-Religion.

Mithin: In Paris ist uns, dem Westen, das widerfahren, was der Westen, und damit auch wir, anderen Völkern tausendfach angetan haben. Das ist nicht schön und auch nicht angenehm. Auch von verdienter Strafe spreche ich nicht, angesichts von Toten. Aber es war – leider – über kurz oder lang zu erwarten. Und es wird noch viel schlimmer kommen, wenn wir uns nicht besinnen. Nicht zuerst über die Täter von Paris sollte man sich empören, sondern über die, die den Terror in die Welt gebracht haben: die Bushs und Obamas und ihre willigen Helfer.

Damit aber bekommen die Trauermärsche in Paris und anderswo etwas Bedenkliches. Liefen die Menschen in Paris doch gerade den Staatsführern hinterher, die sich zwar als Friedenshüter aufspielen, von denen aber viele die Verantwortung für die Kriege der Neuzeit tragen. Das Bedenkliche besteht in der Nähe dieser Demonstrationen zu jenen, die jeden 13. Februar in Dresden stattfinden und deren Teilnehmer nicht begreifen wollen, dass die Zerstörung Dresdens ihre Ursache im deutschen Weltherrschaftsstreben und im vom Hitlerstaat ausgelösten 2. Weltkrieg hat. Sicher liegt den meisten Demonstranten von Paris eine solche Absicht mehr als fern. Damit aber beweist sich nur, wie gut sich selbst die besten Absichten missbrauchen lassen. Und die Demonstrationen von Paris und in anderen Orten geschahen sehr zur Freude der westlichen Warlords in NATO und Pentagon, im Weißen Haus und im Spreebogen und anderswo, wie auch der PE- und anderen -GIDA-Leitkulturchauvinisten. Das ist die Ideologie, die so recht zur Kriegsbegründung taugt. Die Wirkung der Demonstrationen wäre sehr viel anders gewesen, hätten diese Demonstranten die wahren Schuldigenen benannt: die Regierungen der westlichen Welt. Und diese Regierungen schieben ideologische Begründungen, also die eigentlich völlig ausgehöhlten westlichen Werte, nur vor. Am Ende geht es ihnen nie um „Demokratie“, Religion und „Antiterrorkampf“, sondern immer um Macht, Geld und Rohstoffe. Das war auch der eigentliche Hintergrund des Antisemitismus der Hitlerfaschisten. Das aber verschweigt man heute lieber und stellt die Naziideologie lieber als rein ideologischen Irrsinn dar. Zu offensichtlich wären sonst die Parallelen zu heute.

Übrigens empfinde ich auch den angeblichen Atheismus von Charlie Hebdo als pure Heuchelei. Für Atheisten gibt es Gott nicht (bei Agnostikern ist seine Existenz nicht erkennbar und daher irrelevant), sind die Propheten bestenfalls historische Personen, deren Leben und Werk vor die verschiedensten Karren gespannt und gebraucht bzw. missbraucht wurden. Bibel und Koran und andere Schriften sind kulturhistorische Werke, deren Verständnis sehr starken, teils gegensätzlichen Wandlungen unterlag. Für wirkliche Atheisten gibt es daher keine richtige oder falsche Religionsauslegung, sondern ist Religionsauslegung immer nur Spiegelbild der Verhältnisse unter der sie erfolgt. Ein Atheist weiß also zur „richtigen“ Religionshandhabung nichts beizusteuern. Charlie Hebdo aber unternimmt es mit seinen Karikaturen, die verschiedenen Religionen über deren Inhalt zu belehren – und wird so zur Partei in Religionsauseinandersetzungen, die wiederrum zur Kriegsbegründung herhalten müssen. Und Charlie Hebdo besitzt zudem die inhumane Charakterlosigkeit, diejenigen mit Karikaturen durch den Kakao zu ziehen, auf denen seit Beginn des Jahrtausends alle Welt herumtrampelt und ihnen ihre Religion, den Islam, vorwirft. Die Moslems sind heute Ersatz für das verlorene Jüdische Feindbild. Antiislamismus ersetzt Antisemitismus. Statt „Jud Süß“ nun „Moslem Ali“?

Nein, ich bin nicht Charlie. Und ich lasse mich auch nicht gegen andere Menschen wegen deren Ansichten aufhetzen und nehme auch nicht daran teil, andere aufzuhetzen. Und wenn ich jemanden wirklich feindlich gesonnen bin, dann sind es die, die nicht genug an Reichtum und Macht bekommen können und dafür mit Krieg und Gewalt jede Humanität zertrampeln.

Ich fürchte mich vor der immer schneller vor sich gehenden Faschisisierung des Abendlandes. Immer mehr Leute lassen sich da einspannen. Aber ich bin nicht Charlie und auch kein von den westlichen Regierungen missbrauchbarer Demonstrant. Der westlichen Überlegenheitsideologie verweigere ich die Gefolgschaft.