Ökonomie – Demokratie – Sozialismus

Autor: Peter Andreas Schöbel
Beitrag zu einer Diskussion in unserer Mitgliedergruppe

1 Was soll das alles?

Seit in der westlichen Welt Krisenerscheinungen immer offensichtlicher und drückender werden, entsteht selbstverständlich auch die Frage danach, ob nicht auch eine andere Welt möglich ist. Und damit verbunden ist auch die Frage nach dem gewesenen oder einem anderen Sozialismus.

Da sich der Freidenkerverband einer materialistischen Weltanschauung verschrieben hat, sollten wir diese Frage auch mit einer materialistisch-dialektischen Methodik angehen. Das sollte das sine qua non jedes Nachdenkens bei uns sein. Leider zeigt sich immer wieder, dass hierzu gute Absichten nicht ausreichen, sondern ein recht umfängliches Wissen notwendig ist.

Zwei Negativbeispiele, bei denen ich durchaus die guten Absichten, die den Weg in den theoretischen Abgrund gepflastert haben, nicht in Abrede stellen will.

1.) 2011 fand in Dresden die Freidenker-Konferenz zum Thema „Zweifel und Kritik an Fortschritt, Wissenschaft und Technik“ statt. Dort wurde auch ein Vortrag zum Thema „IT-Chancen für die Planwirtschaft“ gehalten und ein Vorschlag für einen IT‑gesteuerten Planungssozialismus unterbreitet. Der Redner bewies aber, dass er weder ein gründliches Wissen zu den Möglichkeiten der Informationstechnologien, noch große Kenntnisse der Planungswissenschaften besaß und er sich auch nicht umfänglich mit den gewesenen derartigen Versuchen beschäftigt hatte. Aber natürlich war alles schön mit scheinbar passenden Marx/Engels-Zitaten untermalt. Doch auch wenn man den Mangel an Wissen übersehen will, so sollten doch zumindest zwei Dinge klar sein:

  • Eine Gesellschaft der „absoluten“ Planung muss auch eine Gesellschaft absoluten Vorschriftenmachens sein, weil jede Unregelmäßigkeit die hübschen Konstrukte stören würde. So werden die Menschen, deren Wesen die schöpferische Gestaltung ist, in der Masse zu „Rädchen“ degradiert. Eine absolute Planungsgesellschaft mag gute Absichten haben, sie ist aber auch absolut menschenfeindlich.
  • Eine bis ins Detail ausgedachte Gesellschaft könnte in der Literatur eine interessante theoretische Spielerei sein. Als Grundlage wissenschaftlichen Denkens oder gar praktischen Handelns ist so etwas überaus gefährlich. Niemand kann wirklich annehmen, die Zukunft detailliert vorhersehen zu können. Praktische, wissenschaftliche Politik, wissenschaftliches Denken, widmet sich den existierenden Problemen und nicht den noch nicht existierenden. Um wirklich voranzukommen, muss der Weg in die Zukunft erkundet werde, indem man Problem für Problem analysiert und löst und dabei die Ergebnisse genau beobachtet. So kommt man voran. Große Sprünge gibt es da nur selten und höchstens als Resultat. Planen kann man sie nicht.

2.) In den „Marxistischen Blättern“ 5/13 fanden sich aus einer Konferenz „Zwölf Thesen zur Sozialismus-Diskussion“. In einer These heißt es: „Die Volkswirtschaften der Sowjetunion und die der meisten RGW-Länder und Chinas bis zur Wende unter Deng Xiaoping waren keine Waren-produzierenden Gesellschaften. Das Wertgesetz hatte keine Geltung …“ Und diese mehr als merkwürdige Behauptung wird begründet damit, „dass es im Realsozialismus keine private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel gab. Es gab kein privates Kapital und auch keinen Kapitalmarkt.“

Nun, ich hatte in der DDR, wenn ich einkaufen ging, schon den Eindruck, Waren zu erstehen. Was denn sonst? Habe ich mir nur eingebildet, dass ich Geld ausgegeben und dafür etwas bekommen habe? Habe ich mir nur eingebildet, dass mein Einkaufsnetz manchmal ziemlich voll und schwer war? Und haben wir eventuell Ladendiebe zu Unrecht bestraft? Wo es keine Waren gibt, ist Diebstahl, sprich illegaler Eigentümerwechsel, ausgeschlossen. Wo aber Eigentum ist, da ist auch Ware. Denn eine Ware ist ein Ding, dessen Eigentümer ich zwar bin, das ich aber als solches nicht brauche, das aber wieder eine anderer braucht, der aber wieder nicht dessen Eigentümer ist. So jedenfalls kann man das dem ersten Band des Kapitals von Karl Marx entnehmen. Und Warenproduktion und Wertgesetz sind Jahrhunderte älter als der Kapitalismus. Die industrielle Produktion mit ihrer typischen Arbeitsteilung, hat Warenproduktion und Wertgesetz nur zum allgemeinen und wesentlichen Gesetz gemacht.

Abgesehen davon war es dem Thesenautor wohl entgangen, dass es sehr wohl auch private Produktionsmittel gab, nämlich in den ca. 18.000 privaten Dienstleistungsunternehmen und auch in den Produktionsgenossenschaften in der DDR. Denn Genossenschaften waren damals wie heute nur zusammengelegtes Privateigentum, dessen nomineller Anteil den Eigentümern blieb. Darüber hinaus gab es bis 1972 ca. 20.000 private und halbstaatliche Industriebetriebe, die dann gegen eine geringe Entschädigung enteignet wurden. Wäre die genannte These wahr, so wäre die DDR frühestens 1972 sozialistisch geworden.

Was ich an diesen zwei Beispielen zeigen will, ist einfach: Es sind wieder viele neue Ideenstifter unterwegs, die sicher gute Absichten haben und gern als Marxschüler gelten wollen, denen es aber viel an Wissen fehlt und die daher ausrutschen müssen. Eine materialistisch-dialektisch Methode kann man darauf nicht gründen.

Das aber sind nur die Spitzen vom Eisberg. Ähnlich auch, wenn an anderer Stelle der „Marxistischen Blätter“ über Sozialismus gesprochen wird: Ist nun die Volksrepublik China sozialistisch oder ist sie böse kapitalistisch? Wo nehmen wir die Maßstäbe her, um das zu beurteilen. Was ist Sozialismus überhaupt? Manche liefern selbst ausgedachte Modelle als Maßstab und dafür selbst ausgedachte Begründungen. Andere nehmen die Sowjetunion oder die DDR als Maßstab: Alles, was diesen einigermaßen ähnlich ist, ist Sozialismus, alles andere nicht. Aber Vorsicht! Gehört dann zu diesem Modell nicht auch der Untergang? Das sicher nicht! Darum ziehen wir schnell die Merkmale ab, die für den Untergang verantwortlich waren, also die nicht richtig sozialistisch waren! Bloß: Damit sind wir schon wieder so klug wie zuvor. Denn was war denn nun das Sozialistische an der DDR und was das Nicht-Sozialistische?

2 Was kann uns Marx helfen?

Üblich ist es, bei allen Sozialismus-Debatten Marx zu zitieren. Doch was kann Marx uns helfen? Sehr viel und – sehr wenig.

Wenig deshalb, weil er selbst Sozialismus nie erlebt hat. Marx hat uns also Hypothesen hinterlassen. Sicher: wohl begründete und durchdachte Hypothesen. Hypothese, die nicht selten willkürlich ausgelegt worden sind. Und ihm war sehr schnell (noch vor der Niederschrift des Kommunistischen Manifestes) klar, dass das ein sehr komplizierter Weg mit vielen Übergängen werden würde.

Schauen wir mal in Marx‘ und Engels‘ Überlegungen vor der bekannten Kritik am Gothaer Parteiprogramm nach. Im „Kommunistischen Manifest“ z. B. finden sich die bekannten Aussagen:

„Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden [Maßregeln – d. A.] ziemlich allgemein in Anwendung kommen können:
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.
2. Starke Progressivsteuer.
3. Abschaffung des Erbrechts.
4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.
5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol.
6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.
7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung aller Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.…“

Wo liest man hier (und an den nachfolgenden Stellen), dass die Enteignung das beste Mittel für eine sozialistische Produktion ist?

Noch deutlicher finden wir das in Friedriche Engels „Grundsätzen des Kommunismus“ von 1847, also ein Jahr zuvor. Er schreibt da:

… „17. Frage: Wird die Abschaffung des Privateigentums mit einem Schlage möglich sein?
Antwort: Nein, ebenso wenig wie sich mit einem Schlage die schon bestehenden Produktivkräfte soweit werden vervielfältigen lassen, als zur Herstellung der Gemeinschaft nötig ist. Die aller Wahrscheinlichkeit nach eintretende Revolution des Proletariats wird also nur allmählich die jetzige Gesellschaft umgestalten und erst dann das Privateigentum abschaffen können, wenn die dazu nötige Masse von Produktionsmitteln geschaffen ist.“ …

„18. Frage: Welchen Entwicklungsgang wird diese Revolution nehmen?
Antwort: Sie wird vor allen Dingen eine demokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indirekt die politische Herrschaft des Proletariats herstellen.
… Die Demokratie würde dem Proletariat ganz nutzlos sein, wenn sie nicht sofort als Mittel zur Durchsetzung weiterer, direkt das Privateigentum angreifender und die Existenz des Proletariats sicherstellender Maßregeln benutzt würde. Die hauptsächlichsten dieser Maßregeln, wie sie sich schon jetzt als notwendige Folgen der bestehenden Verhältnisse ergeben, sind folgende:
1. Beschränkung des Privateigentums durch Progressivsteuern, starke Erbschaftssteuern, Abschaffung der Erbschaft der Seitenlinien (Brüder, Neffen etc.), Zwangsanleihen pp.
2. Allmähliche Expropriation der Grundeigentümer, Fabrikanten, Eisenbahnbesitzer und Schiffsreeder, teils durch Konkurrenz der Staatsindustrie, teils direkt gegen Entschädigung in Assignaten.
3. Konfiskation der Güter aller Emigranten und Rebellen gegen die Majorität des Volkes. …“

Jedem Leser solcher Zeilen bei Marx und Engels sollte klar sein: Hier vermischen sich Mutmaßungen über bestimmte Handlungen und Aufgaben mit politisch-ökonomischen Grundfragen.

Das wirklich Bleibende sind nicht die einzelnen Handlungen, Etappen usw. sondern der Hinweis auf die Langwierigkeit, Vielschichtigkeit und vor allem auf den Zusammenhang von Produktionsverhältnissen mit den Produktivkräften. Wirkliche Umgestaltung der Gesellschaft setzt immer voraus, dass sich auch die Produktivkräfte weiterentwickeln und so die alten Formen überflüssig, ja sogar schädlich machen.

Leider lieb(t)en aber viele, die sich als Nachfolger von Marx und Engels dünkten, die Abkürzungen. Das mag menschlich verständlich sein, hatte aber regelmäßig negative Folgen.

Schauen wir uns einmal die DDR an. Anfang der 70er Jahre wurden, nach dem Wechsel in der Führung der SED, die letzten verblieben privaten Industriebetriebe gegen geringe Entschädigungen enteignet. Aber was waren das für Betriebe? Sie waren sehr effizient, konnten ihren Arbeitern gute, zum Teil bessere Löhne zahlen. Die staatlichen Betriebe waren offensichtlich keine Konkurrenz für sie. Sonst hätten sie ja längst selbst aufgegeben. Die Enteignung erfolgte also nicht, weil man inzwischen Besseres hatte. Man warf also im ideologischen Interesse die Produktivität zurück, verschlechterte die ökonomische Entwicklung, schaffte sich administrativ eine lästige Konkurrenz vom Halse. Das war genau der Weg, den Marx nur als allerersten Eingriff, um die Macht zu erhalten, gesehen hatte. Einem Marx war klar, dass man ökonomische Probleme ökonomisch lösen müsse und nur ersatzweise administrativ.

Was uns Marx nicht hinterlassen hat und nicht hinterlassen konnte, war eine klare Handlungsanweisung und klare Vorstellungen zum Sozialismus / Kommunismus.

Was er uns aber hinterlassen hat, waren klare Vorstellungen von der tatsächlichen Struktur der Gesellschaft, von der Rolle der Arbeitsteilung, vom Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von der Basis und vom Überbau der Gesellschaft, nebst der wichtigsten Kategorien des Kapitalismus und überhaupt warenproduzierender Gesellschaften. Auch hier geht es nur um Prinzipielles, und darf man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Marxens Hypothesen in der Kritik am Gothaer Parteiprogramm zum Sozialismus als niederer Stufe einer neuen Gesellschaft beinhalten zum Beispiel auch die Aussage, dass hier keine Warenproduktion mehr vorläge. Ein Irrtum. Marx hat hier nicht seine eigenen Aussagen aus dem Kommunistischen Manifest berücksichtigt, nach der der Übergang in Schritten erfolgen muss. Also die Verwandlung der Produktionsmittel in gemeinsames Eigentum der Gesellschaft anfangs nur in den Hauptzweigen mit einem Mal, dann aber nach und nach. Somit müssen aber zwangsläufig über einen längeren Zeitraum verschiedene Produktionsverhältnisse nebeneinander bestehen, womit aber auf jeden Fall auch deren Folgen zumindest noch eine Weile bestehen bleiben müssen: Warenproduktion und, ja, Ausbeutung. Diese Verhältnisse können nicht einfach wegadministriert werden, sondern müssen vor allem durch eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte gelöst werden. Marx selbst hatte ja gewarnt:

„… und andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte … auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste.“ ( MEW 3, S. 34)

Nun hat sich bei uns diese „ganze alte Scheiße“ wieder hergestellt, weil wir den Mangel verallgemeinert hatten, auch durch die überstürzte Abschaffung von Privatbetrieben, wo es uns nicht gelungen war, Besseres an deren Stelle zu setzen.

Insgesamt gilt aber: Wer ein Sozialismus-Modell ausschließlich auf Marx aufbauen will, mag gern Marx-Anhänger sein, degradiert aber Marx‘ Werk zur Religion und macht sich selbst zum Apostel. Nicht umsonst kann man in den Marx-Engels-Werken auch lesen:

„Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“

Was uns Marx vermitteln kann, ist seine Methode und einige Grundkenntnisse. Das ist viel und das ist wenig.

Und davon ausgehend kam Mao Tse-tung zu zwei ganz grundsätzlichen Aussagen, die in ihrem Inhalt auch schon bei Lenin zu finden sind, und die man sich dick hinter den Spiegel klemmen sollte. Es sind diese zwei Grundsätze, die es der chinesischen Kommunistischen Partei bei allen Irrungen und Wirrungen, Fehlern und auch Katastrophen immer wieder erlaubt hat, wie eine Katze auf den Füßen zu landen. Solange die KPCh diesen Grundsätzen treu bleibt, ist mir um ihre Zukunft nicht bang.

Diese Grundsätze lauten:

  • Die Wahrheit ist in den Tatsachen zu suchen
  • Der Weg zum Sozialismus muss erkundet werden.

Das heißt kurz: Es ist schön und wertvoll, was die Klassiker so alles geschrieben haben, aber sie waren keine Wahrsager und Propheten. Mit ihrem Wissen haben wir einen hervorragenden Kompass nebst Bedienungsanleitung, aber leider keine Karte von der zu durchwandernden Gegend. Und jeder, der mit einem Kompass umzugehen weiß, sollte bedenken: Stur der Kompassnadel zu folgen, heißt, sich im nächsten Steinbruch das Genick zu brechen oder im nächsten See zu ersaufen.

3 Die Wahrheit in den Tatsachen suchen und den Weg zum Sozialismus erkunden

3.1 Was ist mit Lenin und Sowjetrussland?

Der Erste, der mit den Seinen den Weg zum Sozialismus erkundete, war Wladimir Iljitsch Lenin. Auch er taugt nicht zum Propheten, dem man als Apostel folgen müsse. Er hat viele Irrungen und Wirrungen mitgemacht. Was ihn aber wohltuend von seinem Nachfolger unterschied, war, dass er sich Fehlschläge eingestehen konnte und dann einen anderen Weg nahm. Er hat wirklich, wie später Mao formulierte, die Wahrheit in den Tatsachen gesucht, den Weg erkundet.

Ich will hier nicht die ganze Zeit von der Oktoberrevolution bis zu Lenins Tod rekapitulieren. Ich möchte nur auf einige ganz wesentliche Dinge hinweisen.

Früh findet sich bei Lenin, dass die Arbeitsproduktivität, überhaupt die Entwicklung der Produktion das alles Entscheidende ist. Und er hat viel versucht, um die Produktion voranzubringen. Es seien hier nur drei Versuche, ohne Rücksicht auf deren zeitliche Reihenfolge genannt, die alle nicht den erhofften Durchbruch brachten. Es waren das:

  • Die Entwicklung des Genossenschaftswesens
  • Die vom ganzen Volke getragene Kontrolle und Rechnungsführung
  • Der sozialistische Wettbewerb.

Als das alles wenig brachte, entschied sich Lenin zur Wiedereinführung eines kleinen Stückchens Kapitalismus, zur Wiederzulassung privater Unternehmen. Natürlich nicht in den strategischen Bereichen. Und natürlich nur unter strenger Aufsicht. Aber eben doch ein Stückchen Kapitalismus. Und das Wunder geschah: Die kapitalistische Bestie, vor ein sozialistisches Vehikel gespannt, zog die Karre aus dem Dreck. Das Land erstarkte, die Kommunistische Partei gewann in In- und Ausland an Ansehen.

Überhaupt hatte Lenin keine Angst vor Vorwürfen, Kapitalismus zu betreiben. Und sie wurden auf ihn genauso abgefeuert, wie heute auf die KPCh. Interessant ist hierzu eine kleine Schrift von Lenin. Sie heißt „Über ‚linke‘ Kindereien und über ‚Kleinbürgerlichkeit‘“ und stammt vom Mai 1918 (LW Bd. 27 S. 315 ff.). Sie ist also nur wenige Monate nach der Oktoberrevolution geschrieben. Dort heißt es:

„Gestern [also direkt nach der Oktoberrevolution – d. A.] war der Angelpunkt der gegebenen Lage, möglichst entschieden zu nationalisieren, zu konfiszieren, die Bourgeoisie zu schlagen und zu vernichten, die Sabotage zu brechen. Heute sehen nur Blinde nicht, dass wir mehr nationalisiert, konfisziert, zerschlagen und zerbrochen haben, als wir zu erfassen vermochten. Die Vergesellschaftung aber unterscheidet sich gerade dadurch von einfacher Konfiskation, dass zum Konfiszieren bloße ‚Entschlossenheit‘, ohne die die Fähigkeit, richtig zu registrieren und richtig zu verteilen, genügt, während man ohne eine solche Fähigkeit nicht vergesellschaften kann.“

Und weiter:

„Wenn die von uns angeführten Worte ein Lächeln hervorrufen, so ruft die Entdeckung der ‚linken Kommunisten‘, dass der Sowjetrepublik angesichts einer ‚rechtsbolschewistischen Abweichung‘ eine ‚Evolution zum Staatskapitalismus‘ drohe, nun schon geradezu homerisches Gelächter hervor. Da haben sie uns aber wirklich einen Schrecken eingejagt! Und mit welchem Eifer wiederholen die ‚linken Kommunisten‘ sowohl in Thesen als auch in Artikeln diese Schreckliche Entdeckung …

Sie haben nicht daran gedacht, dass der Staatskapitalismus ein Schritt vorwärts wäre gegenüber der jetzigen Lage der Dinge in unserer Sowjetrepublik. Hätten wir in etwa einem halben Jahr den Staatskapitalismus errichtet, so wäre das ein gewaltiger Erfolg und die sicherste Garantie dafür, dass sich in einem Jahr der Sozialismus bei uns endgültig festigen und unbesiegbar wird.“

Was wir hier sehen, ist eine vollkommen unorthodoxe Herangehensweise. Lenin schrecken nicht Namen und Vorwürfe und Theorien. Sein Maßstab ist die Wirklichkeit. Entwickeln sich die Dinge zu Gunsten des Volkes oder nicht? Nicht um theoretische Schönheit und Erhabenheit geht es, sondern um Erfolg für das Volk, für die Allgemeinheit.

Dann aber kamen Stalin und seine Führungsmannschaft. Und die hielten sich leider nicht lange mit dem Suchen der Wahrheit auf. Und so wurde die Neue Ökonomische Politik (NÖP) Lenins wieder abgeschafft und an die Stelle der ökonomischen Interessiertheit wurde die Administration und, wenn alles nichts fruchtete, die Zuchtrute gesetzt. Sicher war Stalin Kommunist. Sicher wollte Stalin das Beste für sein Land. Sicher hatte er auch Erfolge. Aber er war weit davon entfernt, in Lenins Fußstapfen zu treten. Und schon gar nicht hinsichtlich einer Methodik, die der Praxis und der Erkundung des Weges zum Sozialismus Tribut zollte.

Das dürfen wir schon mal als Fazit so stehen lassen: Die überhastete Nationalisierung und Verstaatlichung bei noch unzureichender Entwicklung der Produktivkräfte war der kardinale ökonomische Lapsus. Das warf die Entwicklung zurück, statt sie nach vorn zu bringen.

Den Vogel aber schoss Gorbatschow ab, der wohl die ökonomischen Probleme verstanden hatte. Aber statt nun die kapitalistische Bestie wieder vor den Karren zu spannen, wie Lenin und später Deng Xiaoping es getan hatten, ließ er diese Bestie gleich ganz von der Leine. Der Anfang vom Untergang war das Gesetz über die Pachtverträge, die es neukapitalistischen Gründern erlaubte, für wenig Geld Staatseigentum zu pachten, ohne dass der Staat noch wirklichen Einfluss hatte, was mit seinem Eigentum nun angestellt wurde. Daraus entstanden dann die Oligarchen. Ein typisches Beispiel ist da der ehemalige Komsomolsekretär Chodorkowski, der es unter Gorbatschow und Jelzin über ein solches „marktwirtschaftliches Experiment“ geschafft hatte, Multimilliardär zu werden. Erst Putin hat dem Treiben der Oligarchen wieder etwas Einhalt geboten und beharrt auf einem starken Staatskapitalismus und des Verbotes der Einmischung der Oligarchen in die Politik.

Wir können hier als zweites Fazit als Erkenntnis aus der Geschichte festhalten: Der Weg zum Sozialismus führt zweifelsfrei über einen starken Staatskapitalismus und beinhaltet auf lange Zeit eine Vermischung von Privat- und Staatskapitalismus. Das aber wusste schon Walter Ulbricht, als er vom Sozialismus als einer relativ eigenständigen längeren Periode sprach. Und der Mann war Praktiker! Erich Honecker war zwar ohne jeden Zweifel eine ehrliche Haut, Antifaschist und Kommunist. Aber alles andere als ein Praktiker. Dafür konnte er nichts, da ihn die Faschisten eingesperrt und seiner Jugend beraubt hatten. Das ändert aber nichts daran, dass ihm zu seiner Funktion viel Erfahrung und Wissen fehlte und er zu denen gehörte, die aus dem Lehrbuch leben mussten und erst merkten, dass etwas mächtig schief läuft, wenn schon stinkige Blasen aufstiegen. Und dann war immer noch nicht klar, warum.

Erinnert sei hier nur an das Thema Kybernetik bzw. Informatik. Hatte Ulbricht vielleicht extrem übertrieben auf Kybernetik – was heute Informatik heißt – gesetzt, so hatte Honecker den „Quatsch“ gleich ganz abgeschafft. Und erst in den 80er Jahren merkte er, dass da etwas nicht stimmt. Und er begann, die Mikroelektronik zu entwickeln, als der Westen schon den ersten Zieleinlauf hinter sich hatte.

Ein funktionierender Staatskapitalismus ist noch kein Sozialismus. Er kennt noch die Entfremdung der Arbeit. Aber er enthält keine Ausbeutung. Ausbeutung ist bekanntlich die private Aneignung der Resultate fremder Arbeit. Das erwirtschaftete Produkt geht nun einmal an den Staat und nicht an den einzelnen Staatsdiener. Und selbst wenn diese ihrem Staatswesen nicht sehr treu sind, etwas in die eigene Tasche abzweigen, die bucklige Verwandtschaft mit Vetternwirtschaft bedienen usw. usf. Sie werden nie die Eigentümer sein, sondern bloß die guten oder schlechten Verwalter. Der Hauptteil des Produktes geht an den Staat. Allerdings droht eine Gefahr: Staatskapital lässt sich privatisieren!

Und so hängt die ganze Richtung, die ein solches Staatswesen nimmt, ganz und ausschließlich von den Kräften ab, die den Staat tragen, wen diese Kräfte repräsentieren, was deren Ziele sind.

3.2 Die chinesischen Erfahrungen

Gegenüber China erfolgt der Vorwurf, die KPCh würde wieder den Kapitalismus einführen. Bloß weil privates Kapital zugelassen ist, weil es sich entwickeln darf und gefördert wird. Dabei zeigt gerade die VR China, dass es – um wieder mit Lenin zu sprechen – nichts nützt, alles zu nationalisieren, wenn man noch gar nicht in der Lage ist, das Nationalisierte auch sachgerecht zu verwalten. Und ob man das als Staat kann, hängt nun nicht nur von Intelligenz und guten Willen, sondern zuvörderst vom Stand der Produktivkräfte ab, also von den Menschen, die die Produktionsmittel anwenden.

Unter Mao gab es kein Privateigentum an Produktionsmitteln, alles gehörte dem Volke via Staat. Und es gab eine „eiserne Reisschüssel“, damit niemand hungern sollte. Und trotzdem verhungerten Tausende jährlich, weil nicht genug zu essen für alle da war. Deng Xiaoping erlaubte dann wieder Privatunternehmen, wo diese effektiver arbeiten konnten. Er beseitigte auch die „Eiserne Reisschüssel“ Maos. Aber heute verhungert niemand mehr.

Das soll nicht heißen, dass Privatkapital die Lösung aller Problem sei. Aber es ist dort und immer solange notwendig, wo die Produktivkräfte nicht zu einer besseren Wirtschaftsform reichen. Und das alles funktioniert nur, wenn ein ökonomisch und politisch starker Staat da ist, der nicht in eigener Selbstherrlichkeit, sondern im Interesse des ganzen Volkes, aller seiner Klassen und Schichten handelt. Und dass trotz der damit zwangsläufig einhergehenden Klassenauseinandesetzungen.

Der VR China wird besonders nach den neuesten Reformen immer wieder die Rückkehr zum Kapitalismus vorgeworfen. Dabei wird auf Aktiengesellschaften und anderes verwiesen. Wohlweislich aber wird dabei unterschlagen, dass die KPCh niemals einen Zweifel daran gelassen hat, dass an der Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums nicht gerührt wird. Wie es dem chinesischen Staat gelungen ist, selbst Aktiengesellschaften in den Dienst des Volkes zu stellen, sei hier an einem kleinen Beispiel dargestellt, dem Beispiel von Lenovo.

Lenovo ist inzwischen der Weltgrößte PC-Hersteller und –Anbieter. Lenovo drängt inzwischen auf den Tablet- und Handy-Markt. Und Lenovo ist eine chinesische Aktiengesellschaft mit einem Jahresumsatz von fast 30 Mrd. Dollar. Wie ist diese Aktiengesellschaft strukturiert? Sein wichtigster Aktionär sind die Legend Holdings (34 % Anteil), die wiederum zu 65 % der staatlichen Chinesischen Akademie der Wissenschaften gehören. Anders gesagt: die Legend Holdings besitzen eine Sperrminorität, mit der Beschlüsse verhindert werden können, die dieser Holding zuwider laufen. Und an dieser Holding hat der Staat über die Akademie der Wissenschaften den Mehrheitsanteil. Das heißt, Lenovo kann zwar relativ frei agieren – solange es für den Staat Geld verdient und so lange es nicht wider die staatlichen Interessen arbeitet. Das nenne ich, den Kapitalismus vor den sozialistischen Karren spannen, um den Sozialismus voran zu bringen und irgendwann auch dieses Gespann überflüssig zu machen.

Sicher steht die VR China am Anfang eines sozialistischen Weges. Und das sieht auch die KPCh so. Aber offensichtlich ist der eingeschlagene Weg erfolgreich. Es ist dies der erfolgreiche Weg der „Neuen Ökonomischen Politik“ Lenins und des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ Ulbrichts.

Das ist die Richtung, die auf dem Weg zu einer besseren Welt einzuschlagen ist. Und danach beginnt wieder das Forschen auf Grund der dabei auftauchenden Probleme.