Gedanken eines sächsischen Freidenkers aus Anlass zweier niederländischer Leserbriefe

Autor: Peter Andreas Schöbel

Vor kurzem erreichten uns eine E-Mail an unseren Landesverband mit dem Betreff „Wo steht der DFV?“ und ein Leserbrief an dem Bundesverband mit dem Titel „Mit wachsendem Unmut lese ich den Freidenker“. Beide stammen vom Vorsitzenden des niederländischen Freidenkerverbandes „De Vrije Gedachte“, Dr. Anton J. L. van Hooff. Diesen Verband kann man im Internet finden unter http://www.devrijegedachte.nl/. Über den Vorsitzenden findet man hier einige Angaben: http://translate.google.de/translate?hl=de&sl=en&u=http://www.proclassics.org/content/view/34/38/&prev=/search%3Fq%3DDr.%2BAnton%2BJ.L.%2Bvan%2BHooff%26biw%3D1621%26bih%3D859. Für Nicht-Niederländisch-Sprechende: Auch die erste Seite kann man sich von Google leidlich übersetzen lassen, für die zweite Seite macht das der Link schon.

Was Dr. van Hooffs Missfallen erregte, war unser DDR-Bild. Hier einige Auszüge:

„…bin ich erstaunt über die kritiklose Verherrlichung der ehemaligen DDR. So wird in demselben Heft Ulbricht als ein großer Politiker gepriesen, aber völlig verschwiegen dass er auch der grösste Lügner der Nachkriegszeit war (‚Es wird keine Mauer geben‘)“

„…die Besprechung von Erich Bucholz: Das DDR-Justizsystem, das beste je in Deutschland? (71.3, S.57). Kein Wort über die üble Praxis und die geheimen Todesurteile.“

„Es ist für mich geradezu unverständlich, dass deutsche Freidenker, Menschen die ohne Dogmen und Ideologie nur die Fakten betrachten, noch immer an einen Staat glauben, der sich schon längst auf dem Müllhaufen der Geschichte befindet.“

Zum Abschluss kommt Dr. van Hooff zu der Frage:

„Wir fragen uns, ob es Sinn hat die Beziehungen mit dem DFV zu beständigen.“

Aber um es gleich voran zu stellen: Ich werde mich in jedem Fall dagegen stellen, wenn irgendwer auf die Idee kommen sollte, die Beziehungen zum Niederländischen Freidenkerverband von einem mir genehmen DDR-Bild abhängig zu machen. Es ist zwar schade, dass Dr. van Hooff in der Frage ein sehr undifferenziertes Bild vertritt, aber es gibt wesentlichere Fragen.

Um es nicht zu verheimlichen: Ich habe ca. 35 Jahre in dieser DDR zugebracht, und sowohl ich als auch alle meine Angehörigen hatten gute Gründe, hier leben zu wollen. Mein Vater und dessen Eltern hatten als Umsiedler durchaus die Wahl zwischen Ost und West. Als Antifaschisten haben sie eine bewusste Entscheidung getroffen. Heute nennt man ja oft den DDR-Antifaschismus einen verordneten – als ob die Entnazifizierung nicht in allen Teilen Deutschlands von den Alliierten der Antihitlerkoalition im Potsdamer Abkommen aufgegeben worden wäre. Die Entnazifizierung war ja keine Sache, die sich die Deutschen in ihrer Mehrheit selbst auferlegt hatten. Weder Ost noch West. Der Unterschied war nur, dass diese „Verordnung“ in den westlichen Besatzungszonen nach besten Möglichkeiten hintertrieben wurde, während in der sowjetischen Besatzungszone hieran konsequent gewirkt wurde. Insofern ist mir immer noch ein verordneter Antifaschismus irgendwie lieber als ein klandestiner Protektionismus für Faschisten, wie er heute wieder an den meisten deutschen Orten üblich ist.

Und noch eins vorab: Ja, ich war systemnah, mehr noch sogar staatsnah. Insofern betreffen mich die Worte des Dr. van Hooff schon ganz persönlich.

Nun ein paar Worte zum Herangehen des Dr. van Hooff. Soviel ich aus oben genannten Quellen weiß, hat Dr. van Hooff promoviert (Doktor Litterarum). Er ist Dozent für Alte Geschichte und Teacher Trainer für Klassische Philologie an der Universität Nijmegen. Sein Spezialgebiet ist die Antike. Darüber hinaus gibt es meines Wissens nach auch eine Fernsehsendung auf Latein. Natürlich sind meine Kenntnisse weder sonderlich umfassend noch aktuell. Ich hoffe, dass mir das Dr. van Hooff nachsieht.

Nun stelle man sich vor, in eines der Seminare von Herrn Dr. van Hooff kommt ein Teilnehmer mit folgender Meinung:
„Es ist für mich geradezu unverständlich, dass ein niederländischer Freidenker, ein Mensch, der ohne Dogmen und Ideologie nur die Fakten betrachtet, noch über ein übles Sklavenhaltersystem referiert, das sich schon längst auf dem Müllhaufen der Geschichte befindet. Und dann noch Fernsehsendungen auf Latein! – dieser Unterdrückersprache der römischen Imperatoren und der Katholischen Kirche!“

Dr. van Hooff würde sich mit Recht über ein derartiges Unwissen empören. Aber er hätte dann einen Eindruck, wie ich mich nach seinen Briefen fühle.

In seinem Leserbrief schrieb Dr. van Hooff auch, dass er einmal mit seinen Studenten die DDR bereist und sich über die vorgefundene Kleinbürgerlichkeit gewundert habe. Ich meinerseits habe auch die Niederlande bereist. Und so weit weg scheint mir die Kleinbürgerlichkeit dort nicht zu sein. Ist es nicht sehr spießig, wenn sich von einem Volk 70 % ein Königshaus wünschen? Den Glauben an eine höhere Geburt hätte Dr. van Hooff bei seinem Besuch in der DDR vergeblich gesucht.

Nun sind die Niederlande auch ein schönes Land mit durchaus für kapitalistische Verhältnisse vorbildlichen Leistungen: einen nennenswerten Mindestlohn, ein gutes Gesundheitswesen und viele andere beachtliche Dinge. Und vor allem mit freundliche Menschen. Aber eben auch Monarchie und Mitmachen bei den NATO-Verbrechen im Irak und in Afghanistan. Das aber wieder wird Dr. van Hooff der DDR zugestehen müssen und hat diese den Niederlanden voraus: Sie hat nie einen Krieg geführt hat. Nicht mal an der Intervention des Warschauer Vertrages in der CSSR hat sie teilgenommen. Auch wenn die Sieger-Propaganda anderes verbreitet. Man wird in den Archiven vergeblich nach Belegen für die Propaganda-Lügen suchen. Alleine die Ausrichtung der DDR auf Frieden wäre schon ein Verdienst, das nahezu im Gedenken unsterblich machen sollte. Kann Dr. van Hooff auch von sich behaupten, wie ich einem Staatswesen gedient zu haben, dessen oberstes Prinzip der Frieden war?

Auch wenn die Niederlande sehr widersprüchlich sind, ich bemühe mich zu einer sehr differenzierten Sicht auf dieses Lande, und ich würde mir gleiches von Leuten wie Dr. van Hooff hinsichtlich der DDR wünschen.

Denn die DDR hatte beachtliche Leistungen – und sicher auch schwere Versäumnisse. Das aber will differenziert betrachtet und gewertet werden. Und gerade von jemandem, der in der Geschichtswissenschaft bewandert ist, glaube ich eine solche Herangehensweise erwarten zu dürfen. Sicher hat man in den Niederlanden beim Studium nicht gelernt, dass bei der Erforschung und Bewertung der Geschichte bei der Antike andere Prinzipien gelten, als bei der neueren Geschichte. Dabei hat man bei der neueren Geschichte sogar den Vorteil, mit Zeitzeugen sprechen und in Archiven arbeiten zu können. Man braucht sich da nicht mit Überlieferungen und Artefakten zu begnügen. Allerdings hat man auch das Problem tendenziöser Propaganda, da die Interpreten meist auch Betroffene sind.

Ich bin mir meiner emotionalen Bindungen durchaus bewusst. Gerade das aber verlangt Sachlichkeit und Sorgfalt. Ist sich Dr. van Hooff auch seiner Emotionalität bewusst, die zu Tage tritt, wenn er Walter Ulbricht als den größten Lügner der Nachkriegsgeschichte bezeichnet? Dr. van Hooff wird doch sicher von der Tonkin-Affäre und von der dem Irakkrieg vorangehenden Chemie-Waffen-Lüge gehört haben? Und selbst wenn man unterstellt, Walter Ulbricht habe von den Beschlüssen des Warschauer Vertrages vorab gehört und gewusst, dass sich die dort beschlossene Grenzsicherung immer weiter zur „Mauer“ entwickeln würde, so wäre das allenfalls eine Lüge im Interesse der Vermeidung eines militärischen Konfliktes. Dieser Konflikt hätte an der unmittelbaren Konfrontationsstelle des Kalten Krieg, inklusive der geschäftsmäßigen und gezielten Abwerbung wichtiger Fachkräfte durch die BRD, schnell entstehen konnte. Das Delikt der illegalen Abwerbung war übrigens noch bis 1998 im StGB der BRD, in § 144 strafbewehrt, wobei eine Fußnote ausdrücklich auswies, das er auf Abwerbung aus der DDR nicht anzuwenden sei.

Lügen bei der Tonkin-Affäre und die Chemie-Waffen-Im-Irak-Lüge, aber waren Lügen, die der Herbeiführung des schwerst-möglichen Verbrechens dienten: des Aggressionskrieges.

Es ist schon ein eigen Ding, wenn man sich im Zuge der Beschäftigung mit Geschichte nicht ausreichend und umfassend informiert.

Wie die Wortwahl und die Aussagen von Dr. van Hooff belegen (des schlimme Justizsystem, angebliche geheime Todesurteile, Ulbricht der größte Lügner seit ‘45, Müllhaufen der Geschichte usw.), hat er sich bereits umfänglich mit den Ansichten der Gegner der DDR beschäftigt. Waren darunter auch wissenschaftlich seriöse Quellen? Mich würde schon interessieren, welche das sind. Nun wäre es ja wohl auch geboten, Auskunft bei den Mitwirkenden östlicherseits einzuholen. Immerhin handelte es sich dabei um ein völkerrechtlich anerkanntes Subjekt, mit dem der Westen Verträge schloss und das auch am 5. Januar 1973 vom Königreich der Niederlande völkerrechtlich anerkannt worden war.

Um sich auch mit anderen Quellen zu befassen: Es gibt es da eine große Zahl von Zeitzeugen, die ihre Gedanken in Büchern niedergelegt haben. Hier nur eine kleine Auswahl derer, die ich mit großem Gewinn gelesen habe:

Zum Rechtssystem kann ich die Bücher des Dr. Friedrich Wolff empfehlen. Ein Buch davon heißt übrigens „Meine verlorenen Prozesse“ und behandelt die politische Justiz in der DDR und der BRD. Wie der Titel schon verrät, ist der Autor nicht unkritisch zur DDR. Er war übrigens Verteidiger in den Politbüroprozessen.

Oder wenn es um Walter Ulbricht geht, lese man das Buch von Prof. Herbert Graf „Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge.“. Professor Graf war persönlicher Mitarbeiter bei Walter Ulbricht, lehrte später an der Akademie für Staat und Recht der DDR und half jungen Nationalstaaten beim Aufbau eines eigenständigen Nationalstaates. Nichts da mit Regime-Change Made in USA. Eine solche wissenschaftlich profunde Quelle sollte sich doch wohl ein echter Geschichtswissenschaftler wie Dr. van Hooff nicht entgehen lassen, bevor er urteilt.

Und wenn es um ein kulturpolitisches Bild geht, empfehle ich die autobiografischen Schriften des Schauspielers Eberhard Esche „Diesem Land nicht meine Knochen“, „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“ usw. Der Mann hatte von Walter Ulbricht zu dessen Lebzeiten keine sehr gute Meinung. Nach der „Wende“ sah er aber einiges anders. Esche hatte auch die Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung unterschrieben. An den Folgen scheiterte indirekt auch seine Ehe mit der Niederländerin Cox Habema, einer ebenso guten Schauspielerin, die nun keine Engagements mehr erhielt. Diese Unterschrift scheint Esche später bereut zu haben, und zwar nicht wegen der Folgen. Da hätte er sich nach der Wende gut als Opfer hinstellen können. Ihm ging aber das spätere Verhalten Biermanns gegen den Strich und so hat er einen seiner Gallensteine nach Biermann benannt.

Wer diese Bücher (und noch viele andere zu diesem Thema) gelesen hat, kann sehen: Auch wir, die wir in der DDR groß geworden sind, sehen die DDR nicht durch die rosarote Brille. Oder meint jemand, ich hätte das faktische Auftrittsverbot für Cox Habema gut gefunden? Aber ein System, an dessen Spitze nur tadellose Helden auf weißen Schimmeln sitzen, die sich immer mit gezücktem Schwert als Erste in die Schlacht stürzen, kommt nur in schlechten Märchen vor. Im realen Leben muss man immer abwägen. Und da scheint mir bis heute ein Staat, der, bei allen Misslichkeiten und Mängeln, gegen Krieg und Faschismus kämpft, der weder Arbeits- noch Obdachlosigkeit kannte, und das alles noch nicht einmal auf Kosten anderer Völker, den persönlichen Einsatz wert. Wenn die BRD dies leisten könnte (und wöllte), ich hätte wahrlich wenig gegen sie einzuwenden und würde ihr vieles verzeihen.

Wenn Dr. van Hooff also tatsächlich und ehrlich nach Erkenntnissen zur DDR sucht, so kann und sollte ihm von uns geholfen werden.

Wenn er aber uns nur seine einseitige Sicht beibringen will und uns letztlich erklären will, wie wir gelebt haben, so sollte er kein Geld für eine Reise ausgeben oder Mühe aufs Schreiben vergeuden.

Unabhängig davon hoffe ich aber, dass es noch genug Berührungspunkte mit „De Vrije Gedachte“ gibt – seien sie auch klein.